Olivier de Berranger

Macroscope: Täuschend gute Verfassung der US-Wirtschaft

Auf makroökonomischer Ebene fällt eine bestimmte Diskrepanz derzeit besonders ins Auge: Die zwischen dem BIP der USA, das im 3. Quartal 2023 bei 2,9 % im Vergleich zum Vorjahr lag, und dem Bruttonationaleinkommen (BNE), das gegenüber dem Vorjahr um 0,1 % zurückgegangen ist. Das ist eine historische Abweichung, die alles andere als belanglos ist. Diese Kennzahlen, die beide der Messung des Wirtschaftswachstums dienen, entwickeln sich normalerweise nahezu im Gleichklang. Eine derart seltene Divergenz legt nahe, dass das Konsumwachstum von einer verstärkten Inanspruchnahme von Krediten und/oder von der Neigung, sich äußerst großzügig aus den verfügbaren Ersparnissen zu bedienen, getragen wird.

 

US-Konsumwachstum zunehmend auf Ersparnissen und Schulden gebaut

Doch die überraschende Dynamik des Konsums der Privathaushalte in den USA, die in den vergangenen Quartalen zu beobachten war, wurde ja gerade von diesen beiden Faktoren gestützt. Zum einen von einer intensiven Nutzung der während der Coronakrise angesammelten Ersparnisse bei einer gleichzeitig sehr niedrigen Sparrate. Zum anderen von einer verstärkten Inanspruchnahme von Krediten. Die Nutzung von „Revolving“-Krediten in Verbindung mit Kreditkarten hat seit dem Erreichen der Talsohle Anfang 2021 stark zugenommen und liegt nun sogar über dem Niveau von vor der Coronakrise. Aber das ist nicht alles. Denn angesichts des starken Anstiegs der Zinsen auf Kreditkarten, die 2023 die Marke von 20 % überschritten, greifen die Haushalte zunehmend auf die Finanzierungsmethode „Buy now, Pay later“ zurück. Das Prinzip ist einfach: Man verteilt die Bezahlung eines Einkaufs auf mehrere Monatsraten – in den meisten Fällen ohne Gebühren und Zinsen. Dieses System ist zwar nicht neu, aber seine Nutzung hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, und diese Entwicklung hat sich 2023 noch beschleunigt.

Wenngleich „Buy now, Pay later“ durchaus Vorteile bietet – beispielsweise die Wertsteigerung des durchschnittlichen Einkaufskorbs oder bessere Qualität/Langlebigkeit der gekauften Produkte – sind auch die Risiken dieser Vorgehensweise erheblich. Da diese Finanzierungen im Gegensatz zu Kreditkarten nicht zentralisiert und reguliert sind, erhöhen sie deutlich das Risiko der Überschuldung oder das von Impulskäufen, die von den tatsächlich verfügbaren Mitteln entkoppelt sind. Hinzu kommt, dass sich das konkrete Volumen dieser Verschuldung nur schwer messen lässt, da sie nicht den wichtigsten Wirtschaftsauskunfteien gemeldet wird. Dies kann zu „Phantomschulden“ führen, d. h. dass die Haushalte stärker verschuldet sind, als es die traditionellen Kennzahlen erkennen lassen.

 

Phantomschulden bergen systemische Risiken

Im jetzigen Stadium scheint dieses Phänomen kein reales systemisches Risiko darzustellen. Es unterstreicht allerdings den täuschenden Charakter der jüngst festgestellten guten Verfassung der US-Wirtschaft. Unter dem Strich wurde diese im Wesentlichen vom privaten Konsum gestützt, der von einem übermäßigen Verbrauch von Ersparnissen und einem verstärkten Rückgriff auf Kredite getragen wurde. Letztere sind wahrscheinlich wiederum höher als die offiziellen Zahlen nahelegen, da die Nutzung von „Buy now, Pay later“ stark zugenommen hat. Dieses prekäre Gleichgewicht kann halten, wenn es auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt nicht zu einer bedeutenden Verschlechterung kommt. Denn vor dem Hintergrund der nachgebenden Inflation sind die Reallöhne gestiegen. Sollte sich die Beschäftigungslage hingegen deutlich verschlechtern, ist es sehr wahrscheinlich, dass dieser Konsum auf Kredit ein recht jähes Ende findet. In diesem Fall würden sich BIP und BNE bei fallender Tendenz wieder annähern, was sehr wahrscheinlich zu einer Rezession führen würde.

 

 

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