Olivier de Berranger

Macroscope: 23. März-Ausgabe

Fed lässt die Zinszügel locker

Der starke Anstieg der US-Renditen von 0,50 % Anfang August 2020 auf mehr als 1,70 % am 18. März 2021 hat die Finanzwelt erschüttert und wird mittelfristig auch die Wirtschaftswelt erschüttern. Die Folgen sind noch nicht vollständig absehbar – zumal nicht klar ist, wie weit der Anstieg noch gehen kann.

Vollbeschäftigung versus Klimawandel: Fed und EZB mit unterschiedlichen Prioritäten

Der Markt fragte sich, ob Fed-Vorsitzender Jerome Powell auf der letzten Sitzung des geldpolitischen Ausschusses – zumindest andeutungsweise – eine Grenze festlegen würde, deren Überschreitung die Fed verhindern wird. Doch nichts dergleichen. Powell betonte, dass die US-Wirtschaft noch einen langen Weg vor sich hat, um die Vollbeschäftigung – eines der beiden offiziellen Ziele der Fed – zu erreichen. Somit gab er keinen Fingerzeig in Richtung einer Straffung der Zinssätze, was die Sorgen vor einer inflationären Überhitzung hätte lindern können. Ganz im Gegenteil. Denn laut Powell hat das Ziel der Vollbeschäftigung derzeit Vorrang vor der Kontrolle der Inflation, es sei denn, diese würde dauerhaft auf über 2 % steigen.

Die Beschäftigungsfrage ist derart zentral, dass sich Powell sogar die Zeit nahm, die Arbeitslosenquote für die USA in einzelnen sozialen Kategorien zu erläutern, wie z. B. die Beschäftigung bei der afroamerikanischen oder hispanoamerikanischen Bevölkerung. Diese für die Fed neuen Töne waren noch vor einigen Jahren schwer vorstellbar – und sind beispielsweise seitens EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die sich zum Thema Beschäftigung ausschweigt, völlig undenkbar. Die globale Erderwärmung, zu der sich die EZB mittlerweile regelmäßig äußert, wurde dagegen von Powell kaum erwähnt. Die Unterschiede bei den derzeitigen Prioritäten der Zentralbanken sind offenkundig. Diese dürften so lange fortbestehen, bis die Fed das Klima als ein Parameter berücksichtigt, das die Beschäftigung und Inflation tatsächlich indirekt beeinflusst.

Renditen in den USA und Europa ziehen an

Durch seine ausbleibende Willensbekundung zu ihrer mittelfristigen Eindämmung gab Powell die langfristigen US-Zinssätze frei. Der Markt verstand das Signal, so dass die Renditen am Tag nach seiner Erklärung auf 1,75 % anstiegen, während sie am Vortag noch bei rund 1,65 % lagen. Durch den Ansteckungseffekt zogen auch die Renditen in Europa an, obwohl sich die Lage dort ganz anders gestaltet. Noch am 18. März verkündete Frankreich nach Italien, Polen und Norwegen einen dritten Lockdown, der die schwache Erholung in Europa belasten wird.

Wenn man den Zinsen freien Lauf lässt, besteht die Gefahr, sie eines Tages jäh wieder einfangen zu müssen, falls die Renditen ungebremst weiter steigen. Dann wäre man gezwungen, die kurzfristigen Zinssätze anzuheben oder die Bilanz abzubauen. Der Extremfall wurde von Paul Volcker (1) veranschaulicht, der die kurzfristigen Zinssätze Anfang der 1980er Jahre auf 20 % anhob und bewusst eine Rezession auslöste. Für die kommenden Jahre besteht dieses Risiko natürlich nicht. Aber diese Zeit ist dem Markt noch ungut im Gedächtnis. Solange sie noch umherspukt und die Erinnerung an die platzenden Blasen nach zwei der drei letzten Anhebungen der kurzfristigen Zinssätze (Ende der 1990er Jahre und 2004–2006) fortbesteht, werden die Ängste am Markt in Bezug auf die Zinssätze nicht nachlassen.

Es gibt aber auch eine gute Nachricht inmitten all dieser Sorgen: Zumindest jene Aktien, deren Kurse nicht astronomisch hoch sind, sind nicht unmittelbar betroffen. Bei fortdauerndem Wachstum könnten sie die Turbulenzen am Anleihenmarkt mühelos hinter sich lassen: Risikoanlagen erscheinen unter diesem Gesichtspunkt wie sichere Häfen.

(1) US-Ökonom, Vorsitzender der Fed von 1979 bis 1987