Olivier de Berranger

Macroscope: Fed-Politik: Langer Marsch oder großer Sprung?

Die US-Notenbank Fed hat als Liquiditätsquelle die Wahl: entweder ein langer Marsch oder ein großer Sprung. Entweder sie beginnt einen langen, beschwerlichen Marsch hin zur Normalisierung ihrer Geldpolitik, der trotz unvermeidlicher Schäden in ein oder zwei Jahren siegreich enden könnte. Oder sie spielt auf Zeit und lässt die Bewertungen der Vermögenswerte durch die überschüssige Liquidität so hoch wie möglich steigen. Hierdurch liefe sie Gefahr, eines Tages einen großen Sprung nach vorn hin zu einer Normalisierung des Zinsniveaus beschließen zu müssen. Tatsächlich wäre dies jedoch ein großer Sprung zurück hin zu einer traditionelleren Geldpolitik – und für die Märkte vermutlich ebenfalls ein großer Sprung zurück.

In jedem Falle ist es möglich, den aktuellen Kurs länger als einige Wochen beizubehalten. Beim derzeitigen Inflationsniveau von +3,1 % jährlich in den USA für die Konsumausgaben der Privathaushalte sowie einem erwarteten Wachstum für 2021 von erstaunlichen 6,6 % müssten sämtliche Zinssätze sehr weit über den jetzigen Marken liegen. Zwar werden die Zahlen von einem durch die Krise im März 2020 bedingten Basiseffekt vorübergehend aufgebläht, und manche Lieferengpässe wie etwa bei Computerchips oder Fahrzeugen werden mit der Zeit verschwinden. Doch selbst unter Berücksichtigung eines Rückgangs der Inflation auf knapp unter 2 % und eines ähnlich hohen realen BIP-Wachstums müssten die zehnjährigen Zinssätze laut Statistiken und Wirtschaftstheorie mindestens bei rund 4 % liegen. Sie stagnieren allerdings seit mehreren Wochen bei 1,60 %!

Preisinflation bei Rohstoffen – gekommen um zu bleiben?

Überdies sind nicht alle Faktoren der derzeitigen Preisinflation so vorübergehend. Die Preise bestimmter Rohstoffe haben beispielsweise Spitzenwerte erreicht, die nicht so schnell wieder sinken werden. Denn das Angebot lässt sich nicht ohne weiteres ausweiten, und die Nachfrage scheint sich insbesondere in Anbetracht der in den USA angekündigten großen Infrastrukturvorhaben nicht abzuschwächen. Einige Beispiele: Der Preis von Kupfer-Terminkontrakten ist auf dem höchsten Stand seit über 30 Jahren und stieg binnen eines Jahres um fast 90 %. Bei Eisenerz betrug der Anstieg in demselben Zeitraum fast 70 %. Der Ölpreis bleibt im Vergleich zu seinem Durchschnitt der vergangenen Jahre angemessen, verteuerte sich jedoch seit Jahresanfang um mehr als 40 % und zum Vorjahr um fast 80 %. Dabei ist die Förderkapazität der Schieferölbohranlagen in den USA gesunken.

Die Folge: Die Herstellerpreise ziehen überall an. In China beispielsweise beträgt der Anstieg 6,8 % gegenüber dem Vorjahr. Ein Teil dieses Anstiegs dürfte sich auf die Exportgüter auswirken. In den USA legte der gleiche Indikator um fast 10 % zu (für Fertigerzeugnisse). Die Einkaufsmanager-Indizes bestätigen diesen Trend. Die ISM-Erhebungen zur Wirtschaftsaktivität zeigen einen Wert von 80,6 bei den Preisen für Dienstleistungen gegenüber einem Durchschnitt von 59. Der ISM für den Fertigungssektor liegt bei 88 gegenüber einem Durchschnitt von 61,9.

Mangelndes Lohnwachstum und strukturelle Faktoren drücken Inflation

Für eine nachhaltige Inflation müssen die Löhne nachziehen. Sonst wird die Rezession die Preisdynamik brechen. In dieser Hinsicht fallen die Daten weiterhin sehr verhalten aus – vielleicht sogar zu sehr. Der letzte Monatsbericht zum US-Arbeitsmarkt bestätigt dies: Der Anstieg des durchschnittlichen Stundenlohns betrug im Mai im Jahresvergleich lediglich 2 %. Darüber hinaus ist bekannt, dass langfristige Faktoren wie alternde Bevölkerungen in den reichen Ländern und China oder die Digitalisierung die Inflation tendenziell drücken. Angesichts dessen muss nicht dringend gehandelt werden.

Aber die Inflation bezieht sich nicht nur auf die Löhne. Sollte ein erheblicher Teil der Inflationsfaktoren nicht ganz so flüchtig sein, wie die Fed behauptet – was durchaus wahrscheinlich ist –, könnte der Markt die abwartende Haltung der Zentralbank ablehnen. Der Druck auf die Zinssätze wäre enorm. Der große Sprung nach vorn ist nicht immer die beste Politik.

Ein Teil der Antwort wird zum Ende des Sommers auf dem jährlichen Gipfel der Notenbanker in Jackson Hole erwartet. Sie wissen zweifelsfrei, dass ein kleiner Sprung zu Beginn eines langen Marsches besser ist als ein verspäteter großer. Dieser kleine Sprung für die Banker dürfte ein großer Sprung für die Märkte sein.