Olivier de Berranger

Macroscope: Stagflation – Schreckgespenst oder eher Hirngespinst?

Dieses Wort, das sinnbildlich für finstere Stunden für die Wirtschaft steht, taucht dieser Tage in den Kommentaren mancher Analysten oder in den Schlagzeilen der Fachpresse auf. „Stagflation“ ist ein Begriff, der die jüngste Schwäche der Aktienmärkte nach sieben Monaten des pausenlosen Anstiegs beschreiben soll. Auch wenn nachvollziehbar ist, warum die Medien diesen Begriff so begeistert verwenden, sieht die Realität ganz anders aus.

 

Weltweites Wachstum: Verlangsamung statt Stagnation

Bei der Stagflation handelt es sich um ein selbsttragendes Phänomen, das durch eine hohe Inflation, eine anhaltende Stagnation der Wirtschaftsaktivität und eine hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Der Begriff wurde in den 1970er-Jahren nach der ersten Ölkrise von 1973 populär. Damals war die sehr hohe Inflation, die 1974 in den USA mit 12,3 % ihren Höhepunkt erreichte, durch einen negativen Angebotsschock bei Energierohstoffen und vor allem Öl bedingt. Darüber hinaus geriet die Nachfrage in den Industrieländern am Ende des Nachkriegsbooms ins Stocken. Die aktuelle Lage ist eine völlig andere. Im Gegenteil, die weltweite Nachfrage ist sehr stark – insbesondere in den Industrieländern. Ebendieser positive Nachfrageschock bei einem vorübergehend eingeschränkten Angebot, aufgrund der Folgen der Corona-Krise, ist die Ursache für die Inflation. Überdies lässt sich bei einem weltweiten Wachstum, das für 2022 auf 4,5 % geschätzt wird und in diesem Jahr knapp 6 % erreichen wird, wohl kaum von „Stagnation“ sprechen.

Die Silbe „Stag“ im Wort „Stagflation“ wird daher im aktuellen Umfeld schlicht falsch verwendet. Das heißt jedoch nicht, dass es hinsichtlich der Wirtschaftsaktivität keine Sorgen gibt. Der Höhepunkt des Aufschwungs dürfte bereits hinter uns liegen. Letztendlich könnten die fortbestehenden Engpässe in den weltweiten Produktionsketten zunächst in China und anschließend in den Industrieländern die Nachfrage belasten. Überdies gibt es Schwachstellen wie z.B. der chinesische Immobilienmarkt mit seinem Sorgenkind Evergrande. Es handelt sich im Wesentlichen jedoch lediglich um Bedenken in Bezug auf eine Verlangsamung des Wachstumstempos und nicht um die Erwartung einer Wachstumsstagnation.

 

Neue Preissteigerungen sorgen für anhaltend hohe US-Inflation

Dem zweiten Teil des Wortes, der sich auf die Inflation bezieht, ist hingegen mehr Beachtung zu schenken. Natürlich sind wir weit von den Niveaus der 1970er- und 1980er-Jahre entfernt, und die Ursachen sind ganz andere, aber das Thema steht insbesondere in den USA weiter ganz oben auf der Tagesordnung. Auch wenn die Preise für Waren und Dienstleistungen, die im Frühjahr – vor allem im Bereich Gebrauchtwagen – zur hohen Inflation beigetragen haben, allmählich zurückgehen, beginnen andere Preise zu steigen. Diese sind unmittelbar von den Engpässen in den weltweiten Produktionsketten betroffen, wie z. B. Möbel oder Neuwagen. Darüber hinaus steigen die Erzeugerpreise weiterhin stark an, was durch den jüngsten Anstieg bei den Energiepreisen und insbesondere bei Erdgas und Kohle zusätzlich verstärkt wird. Die Immobilienpreise, die in den USA im vergangenen Jahr um fast 20 % gestiegen sind, werden sich bald auf den Korb für die Berechnung der Inflation auswirken.

Letztendlich dürfte der Lohnanstieg infolge des Arbeitskräftemangels eine Lohn-Preis-Spirale auslösen, welche das Inflationsniveau relativ hoch halten könnte. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Produktivitätszuwächse die Auswirkungen des Lohnanstiegs auf die Inflation sicherlich stark begrenzt. Trotz allem nehmen die Spannungen in den USA zu. Im jüngsten Arbeitsmarktbericht wurde für zahlreiche Sektoren ein Lohnwachstum von 0,5 % oder mehr im Berichtsmonat gemeldet. Während die Stagflation nur noch ein Hirngespinst zu sein scheint, ist die Inflation die Realität.