Olivier de Berranger

Eule oder Strauß: Wohin steuern Christine Lagarde und die EZB?

„Wir haben über Inflation, Inflation, Inflation gesprochen“. Mit diesem Satz fasste Christine Lagarde die Gesprächsinhalte der jüngsten EZB-Sitzung zusammen. Der Begriff Inflation wurde auf dieser Pressekonferenz nicht weniger als 65 Mal verwendet. Die Inflation steht im Frankfurter EZB-Tower allem Anschein nach also unter genauer Beobachtung. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich Christine Lagarde, die sich selbst als Eule bezeichnet, nicht in einen Strauß verwandelt hat. Als Symbol der Weisheit soll die Eule sie von den traditionellen Lagern der akkommodierenden Tauben und restriktiven Falken abheben. Diese Pressekonferenz deutet jedoch darauf hin, dass sich die EZB und ihre Präsidentin Schritt für Schritt in eine „Strauß-Politik” verrennen. Warum Strauß? Weil dieser Vogel, der bei drohender Gefahr seinen Kopf in den Sand steckt, die Realitätsverweigerung symbolisiert.

 

Inflationssorgen bei Verbrauchern wie Unternehmen

Mittlerweile hat die Inflation in der Eurozone den höchsten Stand seit 13 Jahren erreicht. Die langfristige Inflationserwartung der Märkte liegt über der EZB-Zielmarke von 2 % – gemessen an den 5-jährigen Inflationsswaps auf Sicht von fünf Jahren. Aus diesem Grund rechnen die Zinsmärkte bereits im Sommer 2022 mit einer ersten Anhebung der Leitzinsen. Die EZB schließt diese Möglichkeit jedoch derzeit aus.

Was die Verbraucher anbelangt, gibt es in der Eurozone im Gegensatz zu den USA leider keine Erhebungen, die ein klares Bild von den erwarteten Preissteigerungen bieten. Die Google-Daten zeigen jedoch die plötzliche Beliebtheit dieses Suchbegriffs in den großen Volkswirtschaften der Eurozone. Dies ist in Anbetracht der zahlreichen Schlagzeilen über steigende Energie- und Frachtpreise oder die für das Jahresende angekündigten Engpässe kaum verwunderlich.

Auch für die Unternehmen ist die Inflation der wichtigste Grund zur Besorgnis. Dies belegt auch der Tenor der Berichtssaison für das dritte Quartal 2021. In den Berichten der Unternehmen des Stoxx 600 Index wird das Wort „Inflation“ durchschnittlich dreimal genannt. Seit 2007 war diese Zahl nicht mehr so hoch.

 

EZB bleibt (vorerst) auf Kurs – trotz drohender Zweitrundeneffekte

Daher ist die Frage berechtigt, ob sich die Europäische Zentralbank nicht hinsichtlich des eher strukturellen Charakters dieses Inflationsschubes irrt. Wenn alle Wirtschaftsakteure diese neue Situation in ihre wirtschaftlichen Überlegungen einbeziehen, liegt das zweifellos daran, dass Zweitrundeneffekte zum Tragen kommen. Die Anleger sind auf der Suche nach Vermögenswerten, die einem Zyklus mit höherer Inflation standhalten können, wie z. B. Unternehmen, die höhere Preise durchsetzen können. Die Haushalte mit schwindender Kaufkraft werden versuchen, Lohnerhöhungen auszuhandeln, um ihre Kaufkraft zu erhalten. Die Unternehmen, welche die steigenden Kosten bisher durch den Mengeneffekt im Zuge der Wiedereröffnung der Volkswirtschaften auffangen konnten, werden diese Kosten sicherlich bald auf die Preise für Waren und Dienstleistungen umlegen, um ihre Marge zu erhalten oder sogar zu steigern.

Dennoch gelangt die EZB zu einem ganz anderen Schluss. Sie hält diese Inflationsspitze nach wie vor für vorübergehend. Zwar länger, als sie noch vor einigen Monaten erwartet hatte, aber dennoch vorübergehend. Von einer Änderung ihrer künftigen Ausrichtung, der berühmten „forward guidance“, kann also keine Rede sein. Aber wie lange noch?