Der Märkteflüsterer

In einigen Wochen wird Präsident Obama den Namen des Nachfolgers von Ben Bernanke, derzeitiger Präsident der amerikanischen Notenbank (FED), bekanntgeben. Zwei wahrscheinliche Kandidaten: Janet Yellen, deren Ideen denen von Herrn Bernanke ähneln, oder Larry Summers, ehemaliger Direktor des Schatzamts, dem der Präsident der USA offenbar den Vorzug gibt.

Universale ökonomische Kultur, Führerschaft… die von Ben Bernankes Nachfolger verlangten Kompetenzen sind zahlreich. Aber in der Stunde der Wahl wird sich Barack Obama bestimmt darin erinnern, dass der künftige Präsident der FED auch Linguist, Semiologiekenner, eine Art Barde der Makroökonomie, sein muss.

Alan Greenspan beherrschte in seiner aktiven Zeit mit seinem berühmten „Conundrum“ die Kunst, Wörter zu erfinden oder seltene sich wieder anzueignen. Unlängst trat das tapering im Vokabular der Notenbankiers in Erscheinung. To taper bedeutet in wortgetreuer Übersetzung: konisch abdrehen… Die amerikanische Notenbank wird folglich ihr Programm der Quantitative Easing (QE) konisch (d. h. schrittweise) reduzieren; eine andere, von den Notenbankiers erfundene Ausdrucksweise und seit der Krise in 2008 sehr beliebt.

Die Bezugnahme auf einen industriellen Fachbegriff ist raffiniert. Sie gibt zu erkennen, dass die Interventionen der Notenbank bis auf ein Mikron mit einer Genauigkeit gesteuert werden, die der besten High-Tech-Unternehmen würdig ist. Mit Hilfe des tapering wird der Notenbankier ein „Ingenieur der Makroökonomie“. Er passt seine Aktion unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Indikatoren an, die vom BIP bis zum Verkauf von Eigenheimneubauten reichen.

Gleichwohl ist die Makroökonomie keine exakte Wissenschaft, das Engineering ist manchmal unsicher und der Notenbankier muss ständig neue Wörter, neue Waffen finden. Neuankömmling im Notenbankiervokabular: Forward Guidance.

Guidance ist ein von Wirtschaftsexperten und Börsianern hochgeschätztes englisches Wort: die Guidances eines Unternehmens sind die Planzahlen, die die Führungskräfte des Unternehmens dem Markt mitteilen werden. Forward Guidance klingt folglich wie ein Pleonasmus; banausenhaft wäre man versucht zu glauben, dass Guidance definitionsgemäß Forward Guidance ist.

Bis vor kurzem begnügten sich die Notenbankiers damit, Guidances bzw. kurzfristige Prognosen zu veröffentlichen. Sie gaben dem Markt bekannt, welches ihre Zinspolitikvorstellungen bis zur nächsten Sitzung waren. Mit der Forward Guidance versuchen sie nun, die Märkte langfristig zu beeinflussen. Dadurch beruhigen sie die Investoren, die ihre Antizipationen maßvoll und weniger sprunghaft als vorher angleichen können.

Mehr als den technischen Aspekt, wenn er von Forward Guidance spricht, bringt der Notenbankier die Idee einer Langfristvision an. Er ist derjenige, der über die Gegenwart hinaus sieht, der eine Nasenlänge Vorsprung hat. Gesundbeter oder Barde – der Notenbankier wird „derjenige, der Bescheid weiß“.

Woher bezieht er sein Wissen? Aus der Unzahl vorerwähnter makroökonomischer Daten, aber auch aus der Beobachtung der Märkte. In einem seltsamen Spiegelspiel hört der Notenbankier in die Märkte rein, die wiederum dem Notenbankier zuhören. Egal ob die Zinssätze sich zu schnell anspannen, Ben Bernanke beruhigt; wenn im Gegenteil die Märkte gefährlich euphorisch werden, ruft er sie zur Ordnung mit dem Hinweis, dass QE endlich ist. Um die Harmonie dieses „Pas de deux“ zwischen Märkten und Notenbanken zu wahren, ist es unerlässlich, dass der Notenbankier die Kontrolle über Rede, Ausspruch und Wörter hütet, um als Marktflüsterer das Heft in der Hand zu behalten…

Didier LE MENESTREL
in Zusammenarbeit mit Marc Craquelin