Saisonale Migration

Nach einem strahlenden Sommer auf den Märkten, auf den niemand wirklich gefasst war, hätte der September Schauplatz einer schwierigen Rückkehr in die wirtschaftlichen Realitäten werden können. Trotz einer Flut wenig erfreulicher Nachrichten auf internationaler Ebene (amerikanisches Budget, Währungen der Schwellenländer, Krise in Syrien) und lokaler Ebene (Steuerreform, Sozialwirren, Arbeitslosigkeit) fuhren die Finanzmärkte der Industrieländer fort, die Beobachter positiv zu überraschen. Der S&P500, Bezugsindex des amerikanischen Marktes, stellt seit April regelmäßig neue Rekorde auf (1.757 Punkte am 31.10.), während der CAC40, noch weit von seinen historischen Höchstständen entfernt, eine ansehnliche Performance von +18,1% seit Jahresbeginn (4.300 Punkte) hinlegt.

Diese börslichen Aufheiterungen wurden im Herbst von einer Rückkehr der Volumen in einem großen Teil von Europa begleitet. Was sind die Gründe, die diese Kapitalstromdynamiken erklären, deren Stärke niemand vorausgesehen hatte?

Der erste, und gleichzeitig sachlichste Grund beruht auf einem Migrationsphänomen großen Ausmaßes. In Erwartung der Rückkehr von sonnigen Zeiten in Europa und im Angesicht der zunehmend schwierigen Aufgabe neue Performance-Nischen in ihren Heimatländern zu finden, haben viele internationale Investoren für die Wintermonate ein Auge auf die Unternehmen des Alten Kontinents geworfen. Mit seit Juli anhaltenden fünfzehn Wochen positivem Kapitalzufluss in Folge, schlagen die europäischen Aktienfonds einen elf Jahre alten Rekord (1). Die Bekanntgabe eines in fortlaufender Steigerung von 0,3% befindlichen BIP in der Euro-Zone im zweiten Quartal nach sechs Quartalen an Rückgängen spielt hier bestimmt eine Rolle und festigt die Bewegung.

Der zweite Grund, mehr auf Frankreich bezogen, hebt das Angebot eines Aktiensparplans zur Förderung von Klein- und Mittelbetrieben ab 01. Januar 2014 hervor. Diese neue steuerbegünstigte Sparform könnte bis zu 4 Md€ für kleine und mittlere Unternehmen bringen. So soll ein Teil der französischen Ersparnisse in die Finanzierung dieser ökonomischen Struktur von ausschlaggebender Bedeutung geleitet werden. Wurde diese Geldmitteleinbringung, die für viele gleichbedeutend mit einer Hausse-Dynamik ist, antizipiert? Ganz sicher, und die Größe des betroffenen Universums regt zur Relativierung an, denn die Gesamtbörsenkapitalisierung der 3.800 für diesen Sparplan in Betracht kommenden europäischen Unternehmen überschreitet nach den letzten, von der Regierung gesetzten Kriterien die Summe von 700 Md€.

Der dritte, letzte und gleichzeitig akademischste Grund wurde uns von der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften geliefert. Mit der Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises an ein Trio von amerikanischen Wirtschaftsexperten, wurde Ihre Arbeit über „empirische Analyse von Aktienkursen“ geehrt. Dadurch erinnert das Auswahlkomitee des Wirtschaftsnobelpreises daran, dass die Börse kein Glückspiel ist und dass der Preis von finanziellen Vermögenswerten durch Denken und Wissen bestimmt werden kann. Eugene Fama, Robert Schiller und Lars Peter Hansen (die drei Preisträger) bewiesen mit ihren jeweiligen Arbeiten insbesondere, dass selbst wenn kurzfristig Börsenpreise und wahrer Wert einer Anlage differieren können, sie sich auf lange Sicht einander nähern.

Diese, unter den Sachkundigen des Sektors, willkommen Aussage, wurde schon von Benjamin Graham und David Dodd (2) deutlich hervorgehoben. Sie waren die Esten die nachgewiesen haben, dass ein Anleger mittels einer vertieften Finanzanalyse den Substanzwert eines Unternehmens bestimmen konnte. Die „value“-Anlage war geboren und sollte aus Warren Buffet einen der herausragenden  Investoren des vorigen Jahrhunderts machen. Der Fonds Echiquier Value profitiert übrigens dieses Jahr voll und ganz von dieser Thematik.

„Oh! Wie ist die Welt groß im Lichtschein der Lampen!“ rief Charles Baudelaire in seinem Gedichtband „Les Fleurs du mal“ (Die Blumen des Bösen) aus. Von den BRIC- (3) bis zu den Next-11-Staaten (4) hat Kapital auf der Suche nach künftigen Wachstumszonen den Globus umlaufen. Eine 10-jährige Weltreise endet am alten europäischen Kontinent, wie eine Rückkehr zu den Wurzeln. Wetten wir, dass es sich dort länger als einen Winter aufhält, bevor es wieder die große Wanderung fortsetzt.

Didier Le Menestrel

(1)     Daten BofAML / EPFR Global
(2)     Security Analysis, erschienen in 1934
(3)     Brasilien, Russland, Indien und China. Akronym, geprägt von Jim O’Neill in 2001
(4)     Liste von 11 am Rande des Auschwung stehenden Staaten, veröffentlicht von Jim O’Neill im Jahre 2005