Monthly Editorial: Rückkehr zur Multipolarität bietet auch Chancen
Von Michel Saugné, Chief Investment Officer bei LFDE
Paris / Frankfurt am Main, 17.06.2025 – Die glücklichen Zeiten der Globalisierung scheinen endgültig vorbei. Nach der Pax Americana der 1990er und 2000er Jahre und dem Ausnahmezustand bei den Zentralbanken zwischen 2008 und 2020 hat nun eine neue Ära begonnen. Und zwar die der unendlichen Geschichten: hartnäckige Inflation, Verschuldung auf allen Ebenen, Überalterung der Gesellschaft und Rückgang der Erwerbsbevölkerung, Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Rückkehr des Protektionismus, unsichere Energiewende, Triumphzug der künstlichen Intelligenz, verschärfte geopolitische Spannungen und eine extreme gesellschaftliche Polarisierung.
Finanzmärkte auf der Suche nach Orientierung
In diesem sich ständig verändernden Umfeld suchen die Finanzmärkte nach neuen Orientierungspunkten. Die erste Hälfte des Jahres 2025 war von der beeindruckenden wirtschaftlichen Erholung Europas und der Schwellenländer sowie ihrer starken Performance an den Börsen geprägt. Getragen von ehrgeizigen Konjunkturprogrammen (insbesondere in Deutschland), einer angemesseneren Bewertungsprämie und einer deutlichen Outperformance von Value–Anlagestilen und heimischen Titeln könnte die Eurozone in den Portfolios wieder die Hauptrolle übernehmen. Im Gegensatz dazu kämpfen die USA mit angespannten Bewertungen, wachsenden Haushaltsungleichgewichten und erhöhter politischer Unsicherheit seit der Wiederwahl von Donald Trump zum Präsidenten. Auch wenn die US-Indizes weiterhin durch die großen Technologiekonzerne gestützt werden, gibt es nach wie vor erhebliche Unterschiede bei der Wertentwicklung. Weitere Korrekturen sind nicht auszuschließen. Starke technologische Basis in Europa
Schauen wir uns den Technologiesektor einmal etwas genauer an. Er ist nicht mehr nur „einer von vielen“, sondern hat sich seit den 1990er Jahren im Zuge dreier aufeinanderfolgender Revolutionen – Internet, soziale Netzwerke und KI – zum Rückgrat der modernen Gesellschaften und Volkswirtschaften entwickelt. Ob Geschäftswelt, Gesundheit, Bildung, Information, Energiewende, Politik, Sicherheit oder Verteidigung – Technologie ist aus zahllosen Bereichen nicht mehr wegzudenken und bildet mittlerweile eine Grundvoraussetzung für politische und wirtschaftliche Autonomie. Europa wird zwar oft als rückständig wahrgenommen, verfügt aber über eine starke und strategische technologische Basis, die in kritischen Segmenten mithalten kann. Allerdings muss man die richtigen Akteure finden, sie begleiten und mit Bedacht in sie investieren.
Europäische Small- und Mid-Caps mit guten Renditen
Außerhalb des Technologiesektors sehen wir derzeit attraktive mittel- bis langfristige Chancen in mehreren Anlagethemen. Europäische Small und Mid Caps, die lange Zeit vernachlässigt wurden, erzielen wieder gute Renditen und bieten günstige Bewertungen, neuerliches Gewinnwachstum und ein Engagement am heimischen Markt in Verbindung mit massiven staatlichen Konjunkturprogrammen. Dann ist da noch der Verteidigungssektor, der in einer rasch aufrüstenden Welt beispiellose politische Unterstützung erfährt. Das Beispiel Rheinmetall zeigt, wie die Geopolitik zu einer äußerst starken Triebkraft an der Börse werden kann.
Auch Schwellenländer könnten Underperformance hinter sich lassen
„Shanghai, Mumbai, Dubai or Goodbye“ – der Spruch aus den 2000er Jahren könnte erneut zum Motto der Finanzmärkte werden: Gestützt durch den schwachen Dollar, rückläufige Energiekosten und die allmähliche Neuausrichtung der globalen Kapitalströme könnten die Schwellenländer die Underperformance der letzten 20 Jahre endlich hinter sich lassen. Bleibt die große Frage: Was ist mit Amerika?
Angesichts von Übertreibungen an allen Ecken und Enden, unsicherer (Geo-)Politik und Besteuerung sowie dem hohen Druck auf den Verbrauchern könnte der von Retail-Investoren getriebene Bullenmarkt erneut getestet werden, auch wenn der berühmte „TACO Trade“[1] bislang eine nachhaltige Korrektur verhindert hat.
In dieser von der Rückkehr zur Multipolarität geprägten und instabilen Welt, die jedoch auch zahlreiche Chancen bietet, benötigen Anleger Unterscheidungsvermögen, Reaktionsfähigkeit – und ein gutes Gedächtnis. Denn obwohl sich die Geschichte nie exakt wiederholt, verfällt sie immer wieder in alte Muster. Das ideale Umfeld für aktive Vermögensverwalter.