Olivier de Berranger

Konjunktur-Alphabet

Seit dem Ausbruch des Coronavirus im ersten Quartal 2020 und dem darauffolgenden Konjunktureinbruch fragen sich Ökonomen und Beobachter, welche Form der Aufschwung annehmen wird. Für die Beschreibung des Ablaufs dieser potenziellen Erholung nehmen wir das Alphabet zu Hilfe.

Auch wenn zweifelsfrei feststeht, wie der erste Teil des Buchstabens aussieht, d. h. ein senkrechter oder schräger Strich, der den beispiellosen Absturz der Wirtschaft darstellt, wird die Form des zweiten Teils heftig diskutiert.

Eine V-förmige Erholung, bei der das Ausgangsniveau dank der nie dagewesenen geldpolitischen und fiskalischen Hilfsmaßnahmen rasch wieder erreicht wird?

Eine L-förmige Erholung, die von einer sehr langen Flaute gekennzeichnet ist und bei der die Vernichtung von Arbeitsplätzen sowie der Stillstand zahlreicher Sektoren das Wachstumspotenzial nachhaltig schädigen?
Eine U-förmige Erholung als Kombination der beiden zuvor genannten, bei der die Aktivität zwar wieder anzieht, jedoch nur langsam?

An der Börse geht man ganz klar von einer K-förmigen Erholung[1] aus. Dies ist eine Erholung, bei der sich zwischen den Krisengewinnern und den Krisenverlieren unweigerlich eine Kluft auftut.

Zur ersten Gruppe gehören natürlich die Akteure der während und nach den Lockdowns beobachteten digitalen Beschleunigung: Diese sind E-Commerce (AMAZON +87 %, ZALANDO +60 % seit Jahresbeginn[2]), Ausrüster (ASML +17%, NVIDIA +123 %), Zahlungsabwickler (PAYPAL +84 %, ADYEN +90 %), Software und Cloud Computing (MICROSOFT +40 %, SALESFORCE +63 %). Die insbesondere an der US-Börse erreichten Gipfelpunkte (Nasdaq 100 +37 %) lassen sich durch diesen Teil des Kurszettels erklären.

Im Gegenzug gibt es ganze Bereiche der Wirtschaft, die dauerhaft und sogar unheilbar krank sind: Luftfahrt (AIR FRANCE -63 %, AIRBUS -48 %), Tourismus (TUI -68 %, EUROPCAR -71 %), traditioneller Einzelhandel (SMCP -60 %, MACY’S -58 %) und auch Erdöl (ROYAL DUTCH -51 %, TECHNIP FMC -63 %).

Die Wertentwicklung der weltweiten Börsenindizes lässt sich zu einem großen Teil durch die Zugehörigkeit ihrer Komponenten zur ersten oder zur zweiten Gruppe erklären.

Diese Spaltung der Börse ist auch ein Spiegelbild der realen Wirtschaft. Eine Studie des IWF[3] belegt, dass die Ungleichheiten mit jeder Pandemie (SARS, Ebola, H1N1, Zika usw.) größer werden. Zum Stillstand kamen vor allem Sektoren, die Bedarf an Geringqualifizierten haben. Diese wachsende Kluft lässt sich häufig durch die Möglichkeit zur Telearbeit und das Ausbildungsniveau erklären, die in den je nach Aktivitätssektor sehr unterschiedlichen Arbeitslosenquoten ihren Ausdruck finden. In den USA stieg die Anzahl der Stellen, bei denen der Stundenlohn mehr als 32 Dollar beträgt, daher zwischen Jahresbeginn und Ende Juni um 2 %. Die Gruppe der Arbeitnehmer mit weniger als 14 Dollar schrumpfte um 20 %[4].

Die hohen Sparquoten in den Industrieländern sollten es ermöglichen, sich von kurzfristigen Produkten ohne Rendite teilweise abzuwenden, und dazu dienen, Investitionen insbesondere über die privaten Unternehmen wieder anzukurbeln.
In der Fabel von Jean de la Fontaine sterben die an der Pest erkrankten Tiere nicht alle, aber alle sind betroffen. Von dieser Pandemie sind auch wir alle gelinde gesagt betroffen, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise.

[1]Financial Times, 10.06.2020
[2]Stand: 31.08.2020
[3]How Pandemics Leave the Poor Even Farther Behind, IMF Blog, 11.05.2020
[4]Current Population Survey (CPS)