Keine Politik!

Am 21. November 1620, einige Tage bevor sie zum ersten Mal Fuß auf amerikanischen Boden setzten, unterzeichneten die 102 Passagiere der Mayflower auf ihrer Flucht vor der Verfolgung durch Jakob I., König von England und Irland, einen Vertrag, der das Fundament einer neuen Welt bilden sollte. Der Mayflower Compact als Vorläufer der US-amerikanischen Verfassung kennzeichnet die Geburtsstunde einer neuen demokratischen Gesellschaft, die auf der Freiheit und dem Respekt für die Überzeugungen eines jeden Einzelnen beruht.

Zwei Jahrhunderte später stellt sich Alexis de Tocqueville als besonnener Beobachter während seines Aufenthaltes im noch jungen Amerika die Frage nach den potenziellen Hindernissen für die Demokratie.* Zwei Gefahren erscheinen ihm dabei besonders eklatant: Einerseits die Uniformisierung des Einzelnen derart, „daß das Menschengeschlecht stehenbleibt und sich selber beschränkt, daß der Geist sich ewig wieder und wieder über sich selbst beugt, ohne neue Ideen hervorzubringen“ sowie andererseits die Schaffung eines „vorsorglichen und milden“ Despotismus, den eines Wohlfahrtstaates, in dem die Bürger ihre Freiheit aufgeben und der in sämtliche Bereiche ihres Lebens eingreift.

Es ist angebracht, die Präsidentschaftswahlen in Frankreich mit den Augen von Alexis de Tocqueville zu betrachten, da der Populismus immer mehr erstarkt und diese Wahl ferner den Zustand unserer Demokratie infrage stellt. Offensichtlich besteht die Hauptmethode, mit der die Kandidaten die Wahl gewinnen möchten, in der Anhäufung neuer Versprechungen in allen Bereichen. Und bei dieser großen nationalen Versteigerung wird weiterhin ein Staat angepriesen, der alles kann … und das sofort. Eine solche Vorgehensweise wurde nicht erst gestern erfunden und ist der Grund, weswegen heute jedes französische Kind mit einer Last von 30.000 Euro öffentlicher Schulden geboren wird.

Bei der französischen Bevölkerung trifft dieser Sirenengesang jedoch zunehmend auf taube Ohren: Einige Tage vor dem ersten Wahlgang gibt die Mehrheit der Franzosen an, einen leeren Stimmzettel abgeben zu wollen. Vor drei Jahren hatten 25 % der Franzosen diese Absicht bekundet, heute sind es bereits über 40 %, die dies ernsthaft in Betracht ziehen. Ein Ausdruck der Ratlosigkeit der Wählerschaft angesichts der ihr zur Verfügung stehenden Optionen.

Die Prophezeiungen von Tocqueville scheinen sich auf eklatante Weise im Herzen unserer europäischen Demokratien zu bewahrheiten. Es ist dringend notwendig, den „vorsorglichen Staat“ von einem Teil seiner Last zu befreien. So besteht laut Tocqueville die wichtigste Aufgabe einer guten Regierung darin, ihren Bürgern nach und nach beizubringen, wie sie ohne sie auskommen. Zusätzliche Schichten schaffen keine Erleichterung, sie erhöhen die Last nur zusätzlich. Im Gegenteil spricht alles für leichtere Strukturen und die Wiedereroberung sämtlicher Freiheiten ihrer Staatsbürgerschaft durch die Franzosen selbst. Wir müssen den Vereinigten Staaten hier zugutehalten, dass sie ihren Gründungsmythos nie aus den Augen verloren haben und permanent die Frage nach der korrekten Rolle des Staates im Leben eines jeden Einzelnen gestellt wird.

Vor genau 60 Jahren unterzeichneten auf dem alten Kontinent sechs Länder die Römischen Verträge, mit denen die EWG und damit der Gemeinsame Markt geschaffen wurden. Eine einfache, visionäre und zugleich noble Idee auf der Grundlage der Freiheit und mit dem Zweck, die Zusammenarbeit und den Frieden zwischen den Nationen zu stärken. Eine Idee, welche die Europäer nach und nach mit großer Mehrheit befürwortet haben … und deren Prinzip unser Leben wahrhaftig verändert hat! Wie kann man heutzutage zum Beitritt motivieren, wenn sich Europa von der Idee seines ursprünglichen Pakts entfernt und stattdessen damit abmüht, Normen über die Größe von Gurken oder Hühnereiern zu etablieren? Genug der Normen. Nie war es so wichtig wie heute, den Geist von Rom oder der Mayflower wieder aufleben zu lassen.

Didier Le Menestrel

* Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (Über die Demokratie in Amerika).