Ich erzähle Euch von einer Zeit…

Die Älteren unter uns – diejenigen, die sich an die beiden Ölschocks in den 1970er-Jahren und an Zinssätze von mehr als 15 % für 10-jährige französische Staatsanleihen erinnern – belächeln die Diskussion, die von der Europäischen Zentralbank eröffnet wurde. Es wird diskutiert, ob Banken auf ihre kurzfristigen Einlagen eine negative Rendite erhalten.

Die Zeiten der verlockenden lang- und kurzfristigen Zinssätze sind jedoch noch nicht so lange her und auch diejenigen Investoren, die nun Anfang 50 sind und in den 1980er-Jahren in das Investmentgeschäft eingestiegen sind, haben zweistellige Zinssätze miterlebt.

Erinnern wir uns an die Mitte der 1980er-Jahre: Die Zinssätze für langfristige Staatsanleihen in Europa lagen noch nahe an der 10-%-Marke und die galoppierende Inflation der 1970er-Jahre war noch allen im Gedächtnis. Dann kam der schreckliche Oktober 1987: Die Aktienkurse sanken, die Zinssätze stiegen, überwanden spielend die zweistellige Hürde und erreichten mit 13 % in Frankreich ihren Höchststand. Aber die rasantere Entwicklung und der Einbruch der Aktienkurse am 19. Oktober (der Dow Jones verlor an einem Tag 22 %) führten zu einem neuen Phänomen, das mit massiven Käufen von Anleihen einhergeht: die „Flucht in Qualität“1 war geboren!

Ein „Star“-Analyst von Morgan Stanley, Stephen Roach, schrieb einen bis heute bekannten Artikel, in dem er behauptete, dass seine Leser keine zweistelligen Zinssätze mehr erleben würden. Seine damaligen Kunden, die in die Unruhen hineingezogen worden waren und 20 Jahre Inflation hinter sich hatten, fanden seine Prophezeiung sehr kühn… 26 Jahre später hat sich die gewagte Prognose dieses Visionärs und Analysten als besonders treffend erwiesen: Die langfristigen amerikanischen Zinssätze liegen bei 2,5 % und die deutschen Zinssätze bei 1,5 %, womit die Märkte wahrscheinlich seine Erwartungen sogar übertroffen haben.

Würde Herr Roach heute wohl behaupten, dass die Tiefststände, die kürzlich erreicht wurden (1,2 % für Deutschland und 1,6 % für die USA), ihrerseits wiederum ein historisches Minimum darstellen? Dies lässt sich angesichts der Lage in Japan, wo die Zinssätze seit 20 Jahren zwischen 0,4 % und 2 % liegen, nicht so einfach beantworten…

Jedoch ist die Antwort auf diese Frage für die kurzfristige Zukunft der Finanzmärkte von essenzieller Bedeutung, denn ein altes Börsensprichwort besagt: „Wer über Aktien nachdenkt, sollte schauen, was Anleihegläubiger machen“.

Die Investoren, die an freies Geld gewöhnt sind, haben sich kürzlich Sorgen über den Anstieg der deutschen Zinssätze von 1,2 % auf 1,6 % gemacht. Da kommen schlechte Erinnerungen an 1994 hoch: Deutsche und französische Staatsanleihen verloren damals innerhalb von sechs Monaten 15 % ihres Wertes … Dieser enorme Einbruch traumatisierte zahlreiche Gläubiger. 1994 hob die FED im Sturmschritt die kurzfristigen Zinssätze sechsmal in weniger als einem Jahr an! Aber keine Angst – zumindest für das kommende Jahr sind wir vor so einer Entwicklung geschützt.

Seit einigen Wochen sind die Anleihegläubiger vorsichtig geworden, kaufen jedoch massiv Anleihen europäischer Peripherieländer und Unternehmensanleihen aus Spanien oder Italien: Die in den vergangenen Jahren ungeliebten europäischen Länder werden nun für Investitionen bevorzugt. Bei den „besten“ Adressen, dem deutschen und dem US-amerikanischen Staat, stellen sie hingegen ein wenig höhere Anforderungen. Deutschland leiht sich heute Geld zu (etwas) teureren Konditionen als Ende 2012, während sich die Bedingungen für Italien, Spanien und Portugal um einiges verbessert haben.

Kurz gesagt: Die Gläubiger sagen bereits seit geraumer Zeit, dass der Euro überleben wird … Aber diese gute Nachricht an alle wird von einer weiteren Nachricht begleitet, die sich aus den wieder ansteigenden Zinssätzen der besten Schüler ablesen lässt: Europa wird nicht nur überleben, es wird sich auch anpassen! Die künstlich niedrigen Sätze werden sich normalisieren und Europa wird den Pfad der Deflation verlassen…

Nehmen wir die Weissagung der Anleihegläubiger an und investieren wir in Aktien!

Didier LE MENESTREL
in Zusammenarbeit mit Marc Craquelin

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