Olivier de Berranger

Eine Frage der Ausgewogenheit ...

Nachdem sie auf einem Flug von Paris nach New York mit einem riesigen Cumulonimbus, einer unvorhersehbaren Anomalie konfrontiert waren, stehen die Passagiere einer anderen Realität gegenüber, die ihr Leben und die ganze Welt durcheinander bringt. Wie in dem Roman von Hervé Le Tellier1 sah sich der gesamte Planet 2020 gefordert, auf ein unvorstellbares Ereignis zu reagieren, das unser Leben verändert und die Weltwirtschaft neu gezeichnet hat.

2020 wird in vieler Hinsicht ein ganz besonderes Jahr bleiben – ein Jahr, das von einer Pandemie mit zahlreichen Konsequenzen gekennzeichnet war, die bei einer allgemeinen Stimmung aufkam, welche einer Hysterie schon sehr nahe war.

Zunächst die Hysterie in den internationalen Beziehungen, bei der die Einschränkungen von Kontakten und Mobilität die protektionistischen Maßnahmen und den von der US-Regierung ausgelösten Handelskrieg überlagerten. So dürfte der weltweite Warenhandel um mehr als 5,5 % zurückgehen, der stärkste Einbruch seit der Krise von 2008. Im Dienstleistungssektor ist mit einem Minus von knapp 16 % zu rechnen, der stärkste Rückgang seit 1990, als die UNCTAD mit ihrer Statistik begann2.

Dann die Hysterie der innenpolitischen Reaktionen. Wenngleich das Brexit-Psychodrama zumindest vorübergehend ein Ende hat, dauerte seine Auflösung 1.646 Tage ab dem britischen Referendum, ohne dass zahlreiche Themen wie etwa Finanzdienstleistungen – 7 % des britischen BIP – überhaupt behandelt wurden. Jenseits des Atlantiks wird die Politik von Präsident Trump mit seinen Tweet-Tiraden in die Annalen des Kapitols eingehen und die Machtübergabe zumindest chaotisch machen.

Hysterie schließlich auch an den Finanzmärkten, die im ersten Quartal 2020 einen der schnellsten Rückgänge ihrer Geschichte erlebten und im Falle der amerikanischen Märkte auch einen, der am schnellsten wieder wettgemacht wurde. Die Nachricht der Entdeckung von Impfstoffen gegen COVID-19 im November führte schließlich zur besten Monatsperformance des Dow Jones seit 1987, zum besten November für den S&P 500 seit 1928 und zu den besten monatlichen Wertentwicklungen des italienischen und spanischen Aktienmarkts.

Da fragt man sich, ob die großen weltweiten Börsenindizes 2020 ohne diese „Anomalie“, diese Pandemie, die zu einer unvergleichlichen weltweiten Krise führte, ebenso hoch geschlossen hätten. Das weiß wohl niemand, aber glücklicherweise haben die Menschen und die Institutionen sich an die aus früheren Krisen gelernten Lektionen erinnert. Das Zusammenspiel der massiven haushalts- und geldpolitischen Unterstützungsmaßnahmen konnte einem Teil der Auswirkungen der Krise entgegenwirken, ohne dass Fehler aus der Geschichte wiederholt wurden, nämlich die einer zu kurzen, zu schwachen Unterstützung wie 2008 bis 2009 oder bei der europäischen Staatsschuldenkrise 2011.

Setzen wir darauf, dass die extreme Polarisierung der Reaktionen, die 2020 vorherrschte, im Jahr 2021 einer Welt mit ausgewogeneren Märkten weichen wird. Am Horizont zeichnet sich Aufheiterung ab mit den ersten Impfkampagnen, einem diplomatischeren, klassischeren künftigen US-Präsidenten und mit nuancierteren Bewertungen der verschiedenen Assetklassen und Sektoren. Eine gute Mischung für das Eingehen von Risiken …

Parallel zu den Impfkampagnen dürfte die Verbesserung der Wirtschaftslage eine Erholung von hochwertigen zyklischen Titeln ermöglichen sowie eine Verringerung des Abstands der Bewertungen gegenüber Wachstumswerten, der zu extrem geworden ist.

Nach dem Indexjahr 2019 und dem Sektorjahr 2020 könnte 2021 ein Jahr der wiedererlangten Ausgewogenheit bei den Bewertungen werden, in dem wieder stärker bei der Qualität der Unternehmen und damit bei den Börsenkursen unterschieden wird.

1 L’Anomalie, Hervé Le Tellier, 2020
2 https://unctad.org/news/covid-19-drives-large-international-trade-declines-2020