Saisonale Volatilität

Mark Twain(1) ist nicht nur für seine Abenteuergeschichten berühmt, sondern bei Börsianern auch für einen Spruch bekannt: „Der Oktober ist ein besonders gefährlicher Monat, um mit Wertpapieren zu spekulieren. Die anderen riskanten Monate sind: Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar“.

Eine Aussage voller Humor, die sicherlich zum schlechten Ruf eines von den Anlegern nach wie vor gefürchteten Monats im Herbst beitrug. Entgegen althergebrachter Vorstellungen erweist sich der Oktober dennoch als eher positiver Börsenmonat: In den letzten 40 Jahren verzeichnete der Standard and Poor’s 500 (der Leitindex des US-Marktes) einen durchschnittlichen Anstieg von 1,0 % in diesem Zeitraum.

Die Endstatistik kann sich sehen lassen, der Oktober bleibt im Alltag jedoch ein mindestens volatiler Monat. Neben den Katastrophen von Oktober 1987 oder Oktober 2008 mit -21,8 % beziehungsweise -16,9 % beim S&P 500 (seinen beiden schlechtesten Monatsergebnissen in 40 Jahren) ist noch das kräftige Plus von 10,8 % im Oktober 2011 in frischer Erinnerung. Überdies ist der Oktober 1974 mit seinem Plus von 16,3 % nach wie vor der beste Börsenmonat in diesen 40 Jahren. Der Oktober ist kein schlechter Börsenmonat, er ist nur ein Monat mit übermäßiger Volatilität.

Der Oktober 2014 mit seinem Zugewinn von 2,3 % beim S&P 500 wird bei künftigen Statistiken nicht auffallen. Dennoch war der Oktober bei Weitem kein gewöhnlicher Monat für europäische Anleger. Auf dieser Seite des Atlantiks ist die Börsengeschichte nicht dieselbe. Der Stoxx Europe 600 (europäischer Börsenindex, vergleichbar mit dem S&P in den USA) war im abgelaufenen Monat um 1,8 % rückläufig und hat im Gegensatz zu seinem US-Pendant Mühe, seine diesjährigen Höchststände wieder zu erreichen.

Aber vor allem bestätigt der Oktober 2014 die Tradition saisonaler Volatilität. Diese Volatilität speist sich aus den jäh geänderten Erwartungen der Anleger in Bezug auf den Zeitplan der Zinserhöhungen in den USA. Die erste, ursprünglich für Frühjahr 2015 vorgesehene Zinsanhebung scheint angesichts des schwachen Wachstums der Weltwirtschaft und der niedrigen weltweiten Inflation auf die lange Bank geschoben worden zu sein. Die Erwartungen der Akteure änderten sich daher unvermittelt und zogen harsche Folgen am Markt nach sich.

Erschwerend war hierbei die Einführung neuer Finanzmarktvorschriften zur Risikominderung in den Bilanzen der Geschäftsbanken, die es den Banken unmöglich machte, auf diesen Märkten in Echtzeit Kurse und Liquidität bereitzustellen. Die Abwesenheit der Banken in einem ihrer traditionellen Bereiche als „Marktmacher“ und ihre Unfähigkeit, allen Anlegern Liquidität bereitzustellen, sorgten für unerwartete und aufsehenerregende Nebeneffekte: Am 15. Oktober sank die Rendite der 10-jährigen US-T-Note so stark wie nie zuvor (-40 Bp / -16,4 %), bevor sie nahezu unverändert schloss. In Europa stieg die Rendite der italienischen Staatsanleihe mit gleicher Laufzeit dagegen um fast 50 Bp (+20 %) in 2 Tagen!

Im Hinblick auf die turbulente Entwicklung der Märkte im Oktober bekräftigte Jean Laurent Bonnafé (Generaldirektor von BNP PARIBAS) (2): „In den Bankbilanzen, die den neuen Vorschriften unterliegen, sind nicht mehr so viele Vermögensposten zulässig“. Die ROYAL BANK OF SCOTLAND (3) schätzt laut ihrem Indikator, dass die Liquidität des Kreditmarktes, d. h. die Möglichkeit zur Durchführung von Transaktionen mit Unternehmensanleihen, seit der Krise von 2008 um 70 % zurückgegangen ist.

Diese Liquiditätsverknappung zu einem Zeitpunkt, an dem die Disintermediation der Finanzierung von Großunternehmen zur Regel wird, erklärt weitgehend die Heftigkeit, mit der sämtliche Finanzplätze im letzten Monat durchgeschüttelt wurden.

In unserem Niedrigzinsuniversum müssen diese schwer zu kontrollierenden Stimmungsschwankungen hingenommen werden. Zwar bieten sie vermehrt Möglichkeiten zum Kauf von Risikoanlagen zu guten Konditionen. Aber sie setzen im Gegenzug auch die große mentale Anstrengung voraus, mehr Volatilität bei gleicher Performance auf lange Sicht hinzunehmen.

 Didier Le Menestrel

(1) US-amerikanischer Schriftsteller (1835-1910)
(2) BFM Radio 31.10.14
(3) RBS The credit liquidity trap 23.07.14