Alexis Bienvenu

Macroscope: Warten auf die Null

Die Phase der Zinsanhebungen durch die US-Notenbank (Fed) neigt sich dem Ende zu. Zumindest liegen auch bei pessimistischer Betrachtungsweise zwei Drittel des gesamten Ausmaßes dieser Anhebungen schon hinter uns. Denn von dem im März 2022 zwischen 0 und 0,25 % verankerten Niveau hat die Fed ihren Leitzins bereits auf 3,75 – 4 % angehoben. Derzeit gehen die Marktteilnehmer daher davon aus, dass der Leitzins im ersten Quartal 2023 in den USA mit knapp über 5 % seinen Spitzenwert erreichen wird.

Angesichts der jüngsten Inflationszahlen ist es eher unwahrscheinlich, dass sie sich hierin täuschen. Selbst wenn die Zinsen über 5,5 % oder sogar 6 % klettern sollten, dann bliebe nur noch ein Anstieg um 150 bis 200 Basispunkte – also lediglich ein Drittel der bereits erfolgten Anhebung um 375 Basispunkte. Eine andere Entwicklung wäre nur zu erwarten, wenn es zu einem extremen Szenario kommt, in dem die Kerninflation über 6 % steigen würde. Das ist aus heutiger Sicht aber äußerst unwahrscheinlich.

Konjunkturabschwächung im Fokus der Marktteilnehmer

Die Hauptsorge des Marktes gilt also nicht mehr so sehr den künftigen Zinserhöhungen. Vielmehr konzentriert er sich auf die kumulativen mittelfristigen Auswirkungen der bereits vorgenommenen Anhebungen auf die Wirtschaft, also der Konjunkturabschwächung, die zur Eindämmung der Inflation unvermeidbar ist. Diesbezüglich rechnen die Anleger mittlerweile für 2023 mit einem Wachstum, das in den USA praktisch null beträgt und in der Eurozone sogar leicht negativ sein könnte. Ein „Nullwachstum“ wäre das kleinere Übel, weil es eben kein völliger Einbruch wäre. Voraussetzung dafür ist, dass die Fed die Zinsen im zweiten Quartal nicht weiter anhebt oder Ende 2023 sogar wieder senkt, sofern die Inflation dem erwarteten Abwärtstrend folgt.

Das Szenario des Nullwachstums wäre also das kleinere Übel. Doch wie wahrscheinlich ist es? Die mittelfristigen Prognosen des Marktes – das hat die Erfahrung immer wieder gezeigt – taugen nichts. Sei es bezüglich der Inflation, der Zinsen oder der Wachstumsrate – die Erwartungen des Marktes auf Sicht von einem Jahr erweisen sich oft als äußerst weit von der Realität entfernt. Man nehme nur die Prognosen der Fed einer moderaten Inflation im Jahr 2021 oder eines Wachstums von 4 % im Jahr 2022, während die Konsensschätzungen mittlerweile bei unter 2 % liegen.

Erwartungen für die konjunkturelle Entwicklung: zwei Szenarien

Das Wachstum, das man Ende 2023 konstatieren wird, dürfte also wahrscheinlich deutlich über oder unter den erwarteten null Prozent liegen. Welche Faktoren könnten nun ausschlaggebend für die künftige Entwicklung sein?

Positives Szenario: Der wahrscheinliche Rückgang der US-Inflation in Verbindung mit einem deutlichen, aber tolerierbaren Lohnwachstum würde zu einem soliden Konsum führen.

Negatives Szenario: Das Nachgeben der exzessiven Immobilienpreise, die ersten Anzeichen eines Abflauens der Dynamik am Arbeitsmarkt, die unkontrollierbaren Konsequenzen des Ukraine-Krieges und das mögliche Verharren der Inflation auf hohem Niveau könnten zu einer ausgemachten Rezession führen. Aus dieser käme man so schnell nicht wieder heraus, da dafür zunächst eine Kehrtwende in der Gelpolitik notwendig wäre. All diese Ereignisse stünden vor dem Hintergrund, dass China im Gegensatz zu der

Rolle, die es in den vergangenen 20 Jahren gespielt hat, kaum einen positiven Beitrag zur weltweiten Wirtschaftsdynamik leisten dürfte, da das Land voll mit der Eindämmung der Immobilienkrise beschäftigt ist.

Ausschlaggebend: Die „Netto-Null“ zur Dekarbonisierung der Wirtschaft

In welche Richtung die Entwicklung gehen wird, lässt sich heute nicht sagen. Neben dem erhofften „Nullwachstum“ gibt es jedoch noch eine andere „Null“, die letztendlich den Ausschlag geben wird und zurzeit auf der UN-Klimakonferenz diskutiert wird. Dabei handelt es sich um die „Netto-Null“, d. h. die Dekarbonisierung der Wirtschaft, die sofort eingeleitet werden muss, damit sie innerhalb weniger Jahrzehnte erreicht und langfristig sichergestellt werden kann. Doch bisher ging jeder Rückgang der CO2-Emissionen mit einem Rückgang des Wachstums einher. Wenn es dieses Mal anders sein soll, muss man ein neues Modell erfinden. Das ist der Vorteil der doppelten Null, kurz- und langfristig: Sie zwingt dazu, sich neu zu erfinden, was die Menschheit – wie auch der Markt – so hervorragend beherrscht. Die Null, die uns erwartet, ist kein Nichts, sondern eine ganze Menge – von etwas anderem.

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