Coline Pavot

Was wirklich zählt

Im Zentrum der Vertrauensbeziehung zwischen einem Vermögensverwalter und seinen Kunden steht die treuhänderische Verantwortung. Sie gewährleistet, dass diejenigen, die das Geld anderer verwalten, nicht in ihrem eigenen Interesse, sondern in dem der Begünstigten handeln. In der Vergangenheit waren solche Interessen grundsätzlich rein finanzieller Art. Der Freshfields-Bericht für die Vereinten Nationen aus dem Jahr 2005 hat jedoch aufgezeigt, dass ESG-Aspekte ganz wesentlich sind, um eine zuverlässige Schätzung der finanziellen Ergebnisse vornehmen zu können. Damit sind ESG-Aspekte auch für die treuhänderische Verantwortung von besonderer Bedeutung. Gegenwind kommt jedoch von jenseits des Atlantik, wo verschiedene Kampagnen das Thema ESG regelrecht in Verruf bringen. Woher wissen wir also, was wirklich zählt?

Die Frage nach der Wesentlichkeit

Bei Unternehmensanalysen beschäftigen wir Investoren uns mit der Frage, wo treuhänderische Verantwortung beginnt und wo sie endet. Unter dem Aspekt der finanziellen Wesentlichkeit sind ESG-Kriterien bereits seit einigen Jahren Bestandteil unserer Analysen. Sie werden einbezogen, um die Auswirkungen von Umweltaspekten auf Unternehmen zu untersuchen. Einige Anleger möchten noch einen Schritt weiter gehen und untersuchen auch die Auswirkungen des Unternehmens auf seine Umwelt, was als Impact Materiality bezeichnet wird. In Kombination ergeben diese beiden Betrachtungsweisen die sogenannte doppelte Wesentlichkeit, auf die sich die jüngsten Vorschriften für Unternehmen und Anleger stützen.

Doppelte Wesentlichkeit für Unternehmen würde Wandel vorantreiben

Wer die Auswirkungen der Unternehmen auf ihre Umwelt hinterfragen will, muss ihre negativen externen Effekte untersuchen[1]. Den Preis für diese Auswirkungen zahlt noch allzu oft die Gesellschaft. Immer mehr Stimmen fordern, die externen Effekte zu internalisieren: Beispiele hierfür sind der Kohlenstoffmarkt oder die EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen. Letzere verpflichtet Unternehmen, sich mit den negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschenrechte in ihren Wertschöpfungsketten auseinanderzusetzen. In Europa regen die Arbeiten der EFRAG[2] in Bezug auf die Richtlinie zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD[3]) dazu an, die Berichterstattung zur doppelten Wesentlichkeit verpflichtend zu machen. Diese Sichtweise wird im angelsächsischen Raum nicht geteilt, wie die Arbeiten des ISSB[4] oder der US-amerikanischen Finanzmarktaufsicht SEC[5] zeigen. Sie hätte jedoch den Vorzug, dass Unternehmen verpflichtet wären, ihre negativen Auswirkungen öffentlich zu machen und würde so den Weg zur Begrenzung dieser Effekte ebnen (Regulierungen, Steuern usw.). So wäre ein Übergang möglich von einem Wirtschaftssystem, das auf Kosten der übrigen Welt handelt, zu einem System, das die von dieser Welt vorgegebenen Grenzen berücksichtigt! Eine angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen dringend erforderliche Wende.

Doppelte Wesentlichkeit für Anleger als wichtige Entscheidungshilfe

Diese Wende, die durch Verordnungen wie die SFDR (Sustainable Finance Disclosure Regulation) vorangetrieben wird, hat auch für Anleger Folgen. Solche Verordnungen bewirken, dass die Auswirkungen von Anlageentscheidungen auf die Gesellschaft antizipiert und die negativen externen Effekte begrenzt bzw. die positiven Auswirkungen sogar maximiert werden. Diese Dynamik sorgt für ein stärkeres Bewusstsein in der Finanzbranche in Bezug auf die Verantwortung, die ihr innerhalb dieses Paradigmenwechsels zukommt. Impact-Anleger weisen in diesem Bereich den Weg: Sie wissen, dass bestimmte Nachhaltigkeitsfaktoren zwar kurzfristig nicht zu direkten Auswirkungen auf bzw. Kosten für ihre Investitionen führen, jedoch erhebliche Kosten für die Gesellschaft und letztlich indirekte Kosten für die Unternehmen generieren. Die von der CSRD vorangetriebene Sensibilisierung der Unternehmen dürfte die Entwicklung beschleunigen und den Zugang zu einer besseren Datenqualität als Grundlage für Anlageentscheidungen ermöglichen.

Die doppelte Wesentlichkeit ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Um eine nachhaltigere Welt zu schaffen, in der negative Auswirkungen nicht länger auf die leichte Schulter genommen werden, sondern gegen ihre Kosten und ihren Nutzen für die Gesellschaft abgewogen werden, ist eine kollektive Mobilisierung notwendig. LFDE ist sich ihrer Rolle bewusst und arbeitet daran, die doppelte Wesentlichkeit zunehmend in ihre Anlageentscheidungen einzubeziehen – um all dem Rechnung zu tragen, was wirklich zählt!

 

Coline Pavot, Leiterin des Research-Teams für verantwortliche Investments, La Financière de l’Echiquier (LFDE)

[1] Situation, in der sich die Geschäftstätigkeit eines wirtschaftlichen Akteurs negativ auf die Gesellschaft auswirkt

[2] European Financial Reporting Advisory Group

[3] Corporate Sustainable Reporting Directive

[4] International Sustainability Standards Board

[5] Securities and Exchange Commission