Macroscope: EZB: Es ist Zeit zu beschleunigen!
„Haben wir die Inflation gestoppt? Noch nicht. Aber sind wir auf dem richtigen Weg? Ja.“ Mit dieser für sie typischen Metapher drückte Christine Lagarde die wachsende Zuversicht der Europäischen Zentralbank (EZB) aus, dass die Inflation in der Eurozone rasch zurückgehen wird. Die jüngsten Daten zu den Verbraucherpreisen sind in der Tat sehr beruhigend. Im September stiegen sie im Jahresvergleich nur noch um 1,7 % und verzeichneten damit den geringsten Anstieg seit April 2021. Dass die Schwelle von 2 % zum ersten Mal seit drei Jahren unterschritten wurde, hat Symbolcharakter. Die Kerninflation ist mit 2,7 % im Jahresvergleich immer noch etwas hoch, was auf die Preise im Dienstleistungssektor zurückzuführen ist, die im Jahresvergleich immer noch um 3,9 % gestiegen sind. Die Tendenz ist jedoch rückläufig und auch die genaue Zusammensetzung dieser Inflationsrate gibt Anlass zu Optimismus. Denn die Teuerung bei Gütern und Dienstleistungen, deren Preise staatlich reguliert sind, d.h. nach der Eurostat-Definition von staatlichen Stellen festgelegt oder beeinflusst werden, ist mit 4,5 % nach wie vor hoch. Dagegen ist die Inflation bei Waren und Dienstleistungen, deren Preise im Wesentlichen durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, mit 1,5 % deutlich rückläufig. Gerade diese Inflation, die durch Preisschwankungen auf dem freien Markt entsteht, soll aber von der EZB vorrangig unter Kontrolle gehalten werden. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, dass Christine Lagarde eine gewisse Zuversicht ausstrahlte und sogar davon sprach, dass die Inflationsrisiken nun rückläufig seien.
Gleichzeitig unterstrich die EZB-Präsidentin die Bedeutung der zahlreichen jüngsten Daten, die auf eine Verschlechterung der Wachstumsdynamik hindeuten. Sie wies darauf hin, dass dies auch zu einer Abschwächung der Inflation beitragen dürfte. All dies veranlasste den Gouverneursrat am Ende der Sitzung vom 17. Oktober, eine weitere Zinssenkung um 0,25% zu beschließen, was noch vor einem Monat als unwahrscheinlich galt. Obwohl es gute Gründe gibt, in den kommenden Sitzungen schrittweise Zinssenkungen zu erwarten, hat sich die EZB kaum weiter zu ihrem künftigen geldpolitischen Kurs geäußert. Sie sprach weiterhin von „Datenabhängigkeit“ und gab keine Hinweise auf das Tempo der bevorstehenden geldpolitischen Lockerung und vor allem nicht auf eine mögliche Beschleunigung. Dennoch betonte Christine Lagarde, dass die Geldpolitik in der gegenwärtigen Phase restriktiv sei und dies auch nach der Zinssenkung im Oktober bleiben werde. Und das, obwohl sich die Inflation schneller abschwächt als von der EZB selbst erwartet und sich die ohnehin trüben Wachstumsaussichten weiter verschlechtern.
Die Frage ist also berechtigt, warum die EZB nicht proaktiver agiert. Dass das Wachstum in der Eurozone Unterstützung braucht, steht außer Frage. Deutschland läuft Gefahr, im dritten Quartal in eine technische Rezession zurückzufallen, und die Wachstumsaussichten Frankreichs werden durch die im Haushaltsentwurf 2025 der Regierung Barnier angekündigten Maßnahmen stark belastet. Hinzu kommt, dass der Trend zu einer geldpolitischen Lockerung weltweit vorherrscht, so dass das Risiko einer Abwertung der europäischen Währung stark begrenzt ist. Wenn die US-Notenbank (Fed) auf ihrer Sitzung Anfang November die Zinsen um 0,25 % senkt, wird sie ihre Zinsen ebenso stark gesenkt haben wie die EZB (um insgesamt 0,75 %). Das US-Wachstum dürfte 2024 bei über 2,5 % und 2025 immer noch bei knapp 2 % liegen, sofern sich die Beschäftigungslage nicht weiter verschlechtert. Im Gegensatz dazu dürfte das Wachstum in der Eurozone in diesem Jahr nur 0,7 % und im nächsten Jahr kaum 1 % erreichen.
Natürlich kann man argumentieren, dass die EZB im Gegensatz zur Fed oder anderen Zentralbanken kein explizites Mandat zur Unterstützung von Wachstum oder Beschäftigung hat. Zu ihren Leitlinien gehört jedoch, die Ziele der Währungsunion zu unterstützen und dabei die Preisstabilität zu wahren.
Preisstabilität. Und zu diesen Zielen gehört eben auch Wachstum. Zudem hat Christine Lagarde selbst sehr geschickt deutlich gemacht, dass eine Verschlechterung der Wachstumsaussichten den Rückgang der Inflation beeinflussen könnte. Mit anderen Worten: Es besteht die Gefahr, dass die Inflation auf ein zu niedriges Niveau fällt, was wiederum ein Eingreifen der EZB rechtfertigen würde. Im Prinzip könnte die EZB also schon jetzt das Tempo ihrer geldpolitischen Lockerung erhöhen. Ein möglicher Grund für ihre Zurückhaltung ist übertriebene Vorsicht gegenüber der Inflation. Ein weitaus wahrscheinlicherer Grund ist jedoch die Schwierigkeit, die orthodoxeren Mitglieder der EZB von der Möglichkeit eines solchen Szenarios zu überzeugen. Die Skeptiker sollten jedoch an die Lehren der Geschichte erinnert werden. Das Zögern, die Fehler und die schlechte Feinabstimmung der Geldpolitik von 2008 bis 2011 haben die Eurozone im vorangegangenen Zyklus teuer zu stehen gekommen und zu einem „verlorenen Jahrzehnt“ geführt. Ihr BIP wuchs zwischen 2010 und 2019 nur um 13 Prozent, das der USA dagegen um 26 Prozent. Die EZB wäre gut beraten, sich daran zu erinnern und nach dem berühmten Spruch zu handeln, der gelegentlich Seneca zugeschrieben wird: „Errare humanum est, perseverare diabolicum“ [1]
Redaktionsschluss: 18.10.2024 – Enguerrand Artaz, Fund Manager, LFDE