Olivier de Berranger

Macroscope: Bewertungen der Aktienmärkte: Wo liegt der Boden?

 

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (auch KGV oder P/E für Price/Earnings) – die wohl bekannteste Bewertungskennzahl für die Aktienmärkte – lag für den S&P 500 im Mai bei einem Wert zwischen 16,5 und 17,5. Mit diesem Wert ist es in etwa auf das Niveau aus der Zeit vor der Coronakrise und zu seinem zehnjährigen Median zurückgekehrt. An KGV-Werte von über 22,5, wie sie im Frühjahr 2021 festgestellt wurden, kann man sich mittlerweile kaum noch erinnern. Doch wäre es angemessen, zu behaupten, dass die Bewertungen nunmehr wieder attraktiv oder auch „fair“ seien? So verlockend sie auch erscheinen mag, wäre diese Schlussfolgerung wohl zu optimistisch.Geldpolitische Straffung verschlechtert Kurs-Gewinn-VerhältnisZunächst einmal sei daran erinnert, dass Phasen der geldpolitischen Straffung immer mit einem Rückgang der Bewertungskennzahlen verbunden sind. Dies hat zum Teil bereits stattgefunden, möglicherweise ist der Prozess aber noch nicht abgeschlossen. Denn die Bewertungen von vor der Krise oder aus den vergangenen zehn Jahren, mit denen man das aktuelle Niveau zu vergleichen versucht ist, fallen im Wesentlichen in Zeiten akkommodierender Geldpolitik. In der einzigen Phase einer restriktiven Geldpolitik, nämlich 2017/2018, fiel das KGV des S&P unter 14. Damals nahm die US-Notenbank angesichts angespannter Märkte und einer Konjunkturschwäche sowie auf Druck des Weißen Hauses einen Kurswechsel vor und beendete den Prozess der geldpolitischen Straffung.Doch anders als ein Teil der Anleger heute zu hoffen scheint, bestehen kaum Chancen, dass sich dieses Szenario wiederholt. Ende 2018 tat sich die Kerninflation schwer, über die Marke von 2 % hinauszukommen; heute liegt sie höher als 6 %. Ende 2018 übte Donald Trump unablässig Druck auf die Fed aus, um sie von der Straffung der finanziellen Rahmenbedingungen abzuhalten; heute hält Joe Biden die Notenbank dazu an, alle verfügbaren Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation zu ergreifen. Ende 2018 hatte die Fed ihre Zinsen bereits um 2,25 % angehoben und schon über mehrere Monate hinweg ihre Bilanzsumme reduziert; gegenwärtig soll die Zinsanhebung nach der Fed-Sitzung am 15. Juni gerade einmal 1,25 % betragen und die Verkürzung ihrer Bilanz hat gerade erst begonnen.Darüber hinaus hat der Fed-Chef Jerome Powell selbst eingeräumt, dass die Rückkehr zu einer akkommodierenden Geldpolitik Ende 2018 wahrscheinlich ein Fehler war. Die Vorstellung, dass die Fed bei der kleinsten Konjunkturdelle nachgeben könnte, erscheint vor diesem Hintergrund eher als Wunschdenken. In ihrem erbitterten Kampf gegen die Inflation wird die Fed ihren Kurs nur dann ändern, wenn konkrete Anzeichen eines Nachgebens der Teuerungsrate erkennbar werden. Sie ist dabei bereit, eine ausgeprägte Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in Kauf zu nehmen.Gewinnerwartung ist eigentlicher MaßgeberSeitens der Geldpolitik ist somit keine Unterstützung für die Bewertungen zu erwarten. Ein Anstieg der Märkte kann daher nur vom Gewinnwachstum angetrieben werden, und genau hier liegt die zweite Hürde für die Bewertungen. Das aktuelle KGV wird anhand der über ein Jahr erwarteten Gewinne berechnet, die bislang kaum nach unten korrigiert wurden und somit die Möglichkeit einer deutlichen Verlangsamung oder gar einer Rezession in den kommenden Quartalen noch gar nicht berücksichtigen. Genau dieses Szenario hat aber jüngst die Sorgen an den Märkten geschürt. Sowohl in Zeiten einer klassischen, also deflationären, Rezession als auch in der Phase der Stagflation der 1970er Jahre fiel das KGV letztendlich immer unter 10.Das Eintreten solcher Szenarien ist zwar ungewiss, hat jedoch in den vergangenen Monaten an Wahrscheinlichkeit gewonnen, was zusätzlichen Druck auf die Bewertungen der Aktienmärkte und damit auch auf die Kurse ausübt. Mit Blick auf die ausstehenden Ergebnisse des zweiten Quartals 2022, die von Enttäuschungen bei den Margen gekennzeichnet sein könnten, ist in diesem Umfeld also Vorsicht geboten. Wenngleich sich schwer voraussagen lässt, wo bei den Marktbewertungen der Boden liegt, sieht es derzeit danach aus, als könnten sie über einige Quartale hinweg kaum noch steigen. Dabei laufen sie zugleich Gefahr, noch weiter zu fallen. Eher als auf die Themen Inflation und Geldpolitik, die mittlerweile gut eingepreist sind, sollten sich Anleger also künftig auf die Ergebnisse der Unternehmen konzentrieren … und die Spreu vom Weizen trennen.